DEIN HERZ MACHT DAS BILD

Ich erinnere mich noch genau, wie es war, als ich mit der Fotografie begonnen habe. 


Ich hatte eine Spiegelreflexkamera geschenkt bekommen, erste Bilder gemacht und war ernüchtert. Die Bilder waren nicht anders, als die, die ich vorher mit einer einfachen Kompaktkamera gemacht habe. Außer dem coolen Blitz, der im Automatikmodus, einfach, wann er es für richtig hielt, oben raus geklappt ist, hatte sich nichts anders angefühlt. Irgendwann habe ich die Kamera dann weg gelegt und eine ziemlich lange Zeit nicht mehr wirklich angerührt. 

Bis ich praktisch dann den zweiten Anlauf gewagt habe. Und seitdem nicht nur verstanden habe, was die Einstellungen meiner Kamera, Lichtsetzung und die technischen Aspekte bedeuten, sondern auch: dass das Bild, das Du machst nicht nur von der Technik, sondern größtenteils von Dir selbst abhängt.
Von Deiner Herangehensweise an die Fotografie. Von Deinem Herz, das in dem Moment, in dem Du auf den Auslöser drückst, für die Situation, für Dein Gegenüber, für den Augenblick schlagen muss. 

Jaci

Dabei ist es egal, ob Du Landschaften, Architektur, Produkte oder Menschen fotografierst.
Ich schreibe ein bisschen über die Portraitfotografie, weil ich eben hauptsächlich Menschen fotografiere, aber Du kannst das genauso auf den Bereich übertragen, in dem Du arbeitest. 

Vorweg: Jemandem, der sagt, die Kamera sei überhaupt nicht relevant, dem kann ich nicht 100% zustimmen. Mir ist wichtig, dass ich mich auf meine Kamera verlassen kann, dass ich also nicht ständigen Fehlfokus habe, dass ich variabel mit der Blende arbeiten kann, dass ich auf ISO 2500 gehen kann, wenn es die Situation erfordert.
Deshalb würde ich sagen, dass die Technik, die man verwendet, natürlich einen gewissen Einfluss hat, vor allem, wenn man Auftragsarbeiten fotografiert.
Wenn Du für ein Magazin fotografierst und plötzlich doch etwas croppen musst, bist Du froh, wenn Du mehr als zwanzig Megapixel an Auflösung zur Verfügung hast.
Aber das betrachte ich als Fundament, als Sicherheit, sodass ich sagen kann: wenn das Bild daneben geht, ist nicht die Kamera schuld, sondern ich. 

Das ist die Technik-Seite. Im Laufe der Zeit und vor allem auch in den letzten Monaten, wurde mir bewusst:

genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, ist die emotionale Seite, die Seite Deiner Personality als Fotograf. 

Zu sagen, dass ein Bild „Herz“ haben sollte, ist irgendwie einfach, aber ich denke, auch Du kennst Bilder, die das eben nicht haben: seelenlose Bilder. 

Ich bin vor kurzem aus ziemlich vielen Fotogruppen auf Facebook ausgetreten.
Warum? Einfach, weil man so oft die gleichen, unemotionalen und unispirierten Bilder sieht.
Das ist keine Kritik, ich würde mir nie anmaßen, andere Fotografen zu kritisieren. Es ist nur eine Feststellung, die ich für mich getroffen habe, die subjektiv ist. 

Schönheit und Ästhetik, die jeder Mensch hat, lebt auch von der Situation, in der ein Bild entsteht. Fühlt sich jemand wohl? Ist jemand in der Situation, sich der Kamera zu öffnen oder gibt es nur oberflächliche, verkrampfte Posings? 

Und vor allem: hat der Fotograf nur eine oberflächliche, klischeehafte Vorstellung von Schönheit, oder versucht er, einen Menschen fotografisch einzufangen, mit all seiner Persönlichkeit, mit allem, was ihn ausmacht? 

Bei mir waren es hauptsächlich diese beiden Situationen, die meine Art, als Fotograf zu arbeiten geprägt haben, vielleicht kennst Du sie auch: 

1. Du fotografierst Menschen, die noch nicht oft vor der Kamera standen, die unsicher sind, sich vielleicht auch nicht sofort wohl fühlen. 

2. Du fotografierst für eine Zeitschrift und hast nur sehr wenig Zeit mit einer Person. Du weisst nicht, wie die Person ist, ob sie einen guten Tag hat oder schlecht drauf ist. Aber Du brauchst die Bilder. 

Nun stehst Du also hinter der Kamera und Du möchtest natürlich auch Deinen eigenen Stil umsetzen, denkst über Deine Nachbearbeitung nach, vielleicht über Dein Licht. Du bist also erstmal bei Dir.
Dabei solltest Du zuerst, bevor Du überhaupt den Auslöser drückst, bei der Person vor Deiner Kamera sein. 

Ich habe für mich festgestellt, dass der wichtigste Schlüssel zu einem guten oder sogar genialen Bild vor allem der zwischenmenschliche Faktor ist, Deine Persönlichkeit und die Verbindung, die Du zu der Person vor Deiner Kamera aufbaust. 

Bernhard Roetzel, fotografiert im Sommer 2017 in München

Was macht diesen „Herzfaktor“ aus? Warum öffnet sich eine Person dem einen Fotografen, dem anderen nicht? 

Ich habe dazu ein paar Stichpunkte gemacht, vielleicht inspirieren sie Dich und Deine Arbeit: 

1. die Kamera ist nicht so wichtig. Ich denke, im Idealfall ist die Kamera fast unsichtbar, sie ist nur eine technische Notwendigkeit. Ein Streetfotograf, über den ich ein Video gesehen habe, meinte: die Kamera muss einfach eine Verlängerung Deines Auges sein. 

2. baue eine Bindung auf. Damit das schnell geht: finde gemeinsame Themen, interessiere Dich für die Person vor Deiner Kamera. Ich hatte mit einem Manager nur 45 Minuten, um Bilder für ein Magazin (TWEED) zu machen. Ich bin ihm zuvor noch nie begegnet. Er hat in einer Zeitschrift geblättert, die ich ihm als Beispiel gegeben habe und er meinte beim Betrachten „ach, den haben sie mit seinem Hund fotografiert“. Ich habe das sofort aufgegriffen und wir haben uns über Hunde unterhalten, er hat gleich von seinen zu erzählen begonnen. Hole jemanden ab, mit Themen, die er mag und breche das Eis. Das ist die beste Vorlage für gute Fotos. 

3. Natürlichkeit. Ich retuschiere gerne und ich mag auch aufwendige Set-Ups. Aber trotzdem ist mir persönlich wichtig, dass man nicht nur die Oberfläche portraitiert, sondern auch immer einen kleinen Blick in den Menschen hinein bekommt. Bringe die Person vor Deiner Kamera zum Lachen, zum Nachdenken, zu Emotion. Mache lieber ein Bild mehr, dann hast Du den richtigen Moment dabei. 

4. sei einfühlsam. Nur, wenn Du einfühlsam bist, kannst Du eine Bindung aufbauen und natürliche Fotos machen, die Menschen mitten im Leben abholen. Würdest Du dich gerne jemandem öffnen, der auf unsympathisch macht, nur, weil er sich hinter der Kamera wichtig fühlen möchte. Nein, oder? Gerade Menschen, die noch nicht so oft vor der Kamera gestanden haben, brauchen jemanden, der zwar klar und strukturiert, aber auch sympathisch und mit Verständnis auf sie reagiert. Rede mit der Person vor Deiner Kamera, gib ihr Tipps, wie sie sich bewegen soll. Das setzt natürlich vorraus, dass Du dich ein bisschen mit Posingtechniken beschäftigt hast. 

5. „In Dir muss brennen, was du in Anderen entzünden willst“ deshalb: Fotografie muss Deine Passion sein, wenn Deine Bilder genial werden sollen. Gib 100%, dann steckst Du Dein Gegenüber damit an. Bilder begeistern den Betrachter, wenn Dein Traum, Deine Idee, Deine Passion darin sichtbar sind. 

6. mache die Bilder, die Du wirklich liebst. Siehst Du momentan auf Facebook nur Schwarzweiss? Aber Du magst lieber Farbe? Dann mach sie nicht Schwarzweiss. Ich bin nach wie vor damit beschäftigt, meinen Stil zu finden. Deshalb probiere ich so viel wie möglich aus. Aber wenn jeder die Haut bronzefarben graded, mache ich da nicht mit, einfach, weil ich es nicht mag. Deshalb: mache Dich auf die Suche nach einer Bildsprache, mit der Du dich identifizieren kannst. Es ist Deine Bildsprache. Wenn Du sie mit Passion und Herz umsetzt werden sie andere mögen, einfach nur aus diesem Grund. 

7. Likes. Ich habe von einem Fotografen gehört, der Models sagt, sie sollen mit ihm shooten, weil er so eine geniale social media Reichweite hat. Ich überlege mir immer: wie lange hat man ein Bild im Gedächtnis, das man einfach im Instagram Feed beim Durchscrollen wahrnimmt? Ich vergesse diese Bilder schnell, wegen dem Overload an visuellen Eindrücken durch social media. Deswegen: drucke Deine Bilder auch mal aus. Poste sie wo Du willst, aber mach Dich nicht abhängig von Likes. Mit vielen Likes ist das so: den Tatort schauen auch viele Leute, aber er ist nicht auf dem künstlerischen Niveau eines französischen independent Filmes, der vielleicht nur in ausgewählten Kinos läuft. 

8. Gebe nicht so viel auf Listen und Blogartikel. ;-) Aber vielleicht konntest Du ja etwas mitnehmen, auch wenn es vorsichtige Worte sind, weil ich mich selbst immer noch als am Anfang stehend sehe. Schreib mir, was Du denkst. Per Mail oder über die Kommentare. 

Aber vorher: mach großartige Fotos. Denn Du hast alles, was man dafür braucht: eine Kamera (vermute ich, wenn Du solche Blogartikel liest) und Dein Herz, denn schon der kleine Prinz hat gesagt „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen verschlossen“.